Reformpädagogische Mehrstufenklassen

Unterschiedlichkeit, Anders sein, also Vielfalt wird in diesem Modell nicht als störend empfunden, sondern vielmehr als Lernchance und Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung für alle Kinder gesehen. Darum eignet sich dieses Modell gut für den inklusiven Unterricht!


Aufbau und Organisation

Durch das Wiener Modell „Mehrstufenklasse mit reformpädagogischem Schwerpunkt“ wird die „natürliche Vielfalt“ bewusst erhalten. 6 – 11 jährige Kinder (Vorschulstufe bis 4. Klasse) leben, arbeiten und lernen miteinander und voneinander gemeinsam in einem Klassenverband.

Sind Kinder aufgrund ihres individuellen Lerntempos trotz bestmöglicher individueller Betreuung nicht in der Lage, die Unterrichtsziele der Volksschule in den üblichen vier Jahren zu erreichen, haben sie das Recht, ein weiteres Jahr im Klassenverband zu verbleiben. Es kommt zu keiner Aussonderung wie beim klassischen „Sitzenbleiben“!

Eine kürzere Verweildauer als die üblichen 4 Jahre ist unter sorgfältiger Abwägung aller für die Entwicklung des betreffenden Kindes relevanten pädagogischen Gesichtspunkte möglich.

Dem vermehrten Aufwand in der Planung und Durchführung des Unterrichts in dieser heterogenen Lerngruppe wird dadurch Rechnung getragen, dass in unterschiedlichem Ausmaß für Teile des Unterrichts eine zweite Lehrerin / ein zweiter Lehrer arbeitet und darüber hinaus noch in inklusiven Klassen eine Sonderpädagogin / ein Sonderpädagoge.

Integration - Hochbegabung

Da unsere Mehrstufenklassen, wie die Mehrheit aller Mehrstufenklassen in Wien, integrativ geführt werden, besuchen auch Kinder mit erhöhtem sonderpädagogischem Förderbedarf diese Klassen.

Den Bedürfnissen der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf kann sowohl durch die Organisationsform Mehrstufenklasse als auch durch die Methode des offenen Arbeitens in hohem Ausmaß Rechnung getragen werden.

Selbst Kinder mit großen Entwicklungs- und/oder Lernrückständen werden immer wieder erleben, dass sie ihr Wissen an jüngere Kinder weitergeben können. Das motiviert sie in ihrer eigenen Leistungsbereitschaft. Gleichzeitig finden sie in einer weit gestreuten altersheterogenen Gruppe jederzeit passende LernpartnerInnen.

Kinder mit hoher Begabung sind nicht an ein durchschnittliches Arbeitstempo gebunden. Sie können Angebote wahrnehmen, die weit über die im Lehrplan vorgesehenen Inhalte hinausgehen können, womit einer ständigen Unterforderung vorgebeugt werden kann.

Kinder mit so unterschiedlichen individuellen Bedürfnissen können naturgemäß nicht "frontal" (das heißt: zur gleichen Zeit mit denselben Inhalten) unterrichtet werden.                              In unser Unterrichtskonzept fließen daher verschiedene reformpädagogische Richtungen, aber auch andere förderliche pädagogische Entwicklungen wie z. B. gewaltfreie Kommunikation oder geschlechtssensible Erziehung ein, mit dem Ziel, für die Kinder eine optimale, angstfreie Lernumgebung zu schaffen, in der sie sich ganzheitlich entwickeln können.

Reformpädagogischer Hintergrund:

Pädagogische Initiativen, die vorwiegend im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstanden und das Kind als selbstbestimmte Person mit seinen individuellen Möglichkeiten, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen und gleichwohl als Teil einer (Lebens-, Arbeits-, Lern-) Gemeinschaft wertschätzen und zum Angelpunkt ihrer pädagogischen Tätigkeit machen, werden in der Erziehungsgeschichte mit dem Begriff REFORMPÄDAGOGIK beschrieben.

Reform bedeutet Umgestaltung und Erneuerung.

Reformiert werden sollten die damals traditionell vorherrschenden starren, einseitigen, von oben erdachten und nicht kindgemäßen Erziehungs- und Unterrichtskonzepte und Strukturen in den viel zu engen Schulstuben und darüber hinaus auch die bestehenden autoritären gesellschaftlichen  Überlieferungen.

Immer wieder gab und gibt es Menschen, die kritisieren, dass die traditionelle Schule über die Kinder bestimmt, ohne auf deren Individualität einzugehen und  Erwachsenenwissen, Erwachsenenkönnen und Erwachsenenmoral von oben nach unten an diese weitergeben will. Die Reformpädagogik greift diese Kritik auf und versucht alternative Schul- und Unterrichtskonzepte anzubieten.

Wir setzen solche Ideen in den reformpädagogischen Mehrstufenklassen mit der Absicht um, dass sich Kinder als individuelle, Gemeinschaft suchende, selbsttätige und selbstbestimmte Personen entwickeln. Durch Arbeit, für die sie selbst Verantwortung tragen, öffnen sie sich der Welt, erlernen Fähigkeiten, Urteilskraft, Teambereitschaft und Toleranz…. Wir als ReformpädagogInnen begleiten und unterstützen sie dabei.

Mathetik statt Didaktik: (nach Hartmut von Hentig)

Unterricht kann nicht mit Lernen gleichgesetzt werden. Wollen wir allerdings echtes expansives Lernen in der Schule stattfinden lassen, dann geht es eher darum, Theorien von gelungenem Lernen aufzustellen. Wie kann jedes Kind am besten lernen?

Didaktik= Theorie des Unterrichtens  :: Mathetik= Die Theorie des Lernens.

Mathetik heißt also, Belehrung so viel und so gut wie möglich durch Erfahrung zu ersetzen und darum lautet die wesentliche Frage: Wie muss der Erfahrungsraum Schule aussehen, damit er das Lernen der Kinder optimal ermöglicht?

               Wir orientieren uns v.a. an den Ideen von Maria Montessori und Celestin Freinet. Daraus leiten wir für unsere Mehrstufenklassen folgende Unterrichtsaspekte ab:

Die vorbereitete Umgebung

Der eigentliche Lernprozess vollzieht sich also durch den Austausch von Kind und Sache, Kind und Umgebung, LehrerInnen sind nur „indirekt“ beteiligt. Montessori nennt dies indirekte Erziehung und Leitung, die unter anderem darin besteht, eine Interesse weckende Umgebung zu schaffen.

Diese Umgebung ist nach einem kontinuierlichen entwicklungspädagogischen Prinzip aufgebaut, klar strukturiert und überschaubar und in ihrer Gestaltung kindgemäß. Sie stellt ein vielfältiges Angebot dar, das zum Handeln auffordert, Bewegung und freie Wahl ermöglicht und Kinder in der Freiarbeit zum selbsttätigen und selbständigen Arbeiten führt.

„Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren“. (Maria Montessori)

Die Entwicklungsmaterialien

Das Material entspricht in seinem Aufbau den verschiedenen Entwicklungsphasen und den Kriterien der Ästhetik, der Isolation einer Schwierigkeit, der Aktivität und der Fehlerkontrolle.

Die vorbereitete Umgebung in unseren Mehrstufenklassen umfasst Entwicklungsmaterialien von der 0. bis zur 4. (teilweise 5.) Schulstufe. Damit finden alle Kinder zu jeder Zeit die für sie passenden und notwendigen Materialien vor. Sie können länger bei einem Material oder Lerninhalt verweilen, noch nicht Gelerntes so oft wiederholen, wie nötig oder eben schon einen Schritt weitergehen oder gar den nächsten überspringen.

Beurteilung

Durch die dem Material innewohnende Fehlerkontrolle kann sich das Kind weitgehend selbst kontrollieren und wird unabhängiger von der Kontrolle und Beurteilung von außen. Dokumentiert (nicht beurteilt) wird immer der persönliche Lernfortschritt, was das Kind gelernt hat oder noch nicht kann, ohne Vergleich mit anderen, z.B. in einer Kommentierten Direkten Leistungsvorlage. In der 1. – 3. Klasse erfolgt am Ende jedes Halbjahres eine Präsentation des Lernzuwachses, der erledigten Arbeiten (Hefte, AB, Zeichnungen, Werkstücke…) oder der gelernten Lieder, Gedichte etc.

Über den Lernfortschritt findet ein intensiver persönlicher Austausch mit dem Kind, aber auch mit den Eltern statt.

Leider müssen auch wir jetzt den Kindern ab dem Ende der zweiten Schulstufe Ziffernnoten geben, anstatt wie früher erst in der vierten Klasse. Verschiedene Schulen haben aber unterschiedliche Modelle entwickelt, um die Notenzeugnisse nicht an dieKinder austeilen zu müssen.

Organisation des Unterrichts

In der Freiarbeit, die täglich stattfindet, hat das Kind die Gelegenheit, all jene Aktivitäten zu entfalten, die für seine Entwicklung notwendig sind. Tempo, Rhythmus, Häufigkeit, ArbeitspartnerInnen, Arbeitsplatz und Dauer der Arbeit wählt es selbst. Dafür wird am Anfang der Woche ein Wochenplan mit oder ohne Hilfe der LehrerInnen erstellt, der zur Orientierung und zunehmender Selbstorganisation dient.

Neben der Freiarbeit kann es auch noch schwerpunktmäßig gebundenen Fachunterricht geben.

In unserer Mehrstufenklasse sind dies die Schularbeitsvorbereitungsstunden für die Kinder der 4. Schulstufe. Da wir versuchen alle gebundenen Angebote altersdurchlässig zu gestalten, können an diesen Stunden auch jüngere Kinder teilnehmen, wenn dies ihrem Lernstand und Interesse entspricht.

Aber auch Englisch, Werken, Turnen, Musik und Religion sind hauptsächlich als gebundene Stunden organisiert.

Der Morgenkreis dient in der Regel dem Erzählen und Vorlesen, dem sozialen Austausch, dem Singen von Liedern, dem gemeinsamen Spielen oder Beschäftigen mit einem Sachthema und der Präsentation von Arbeiten.

Individuelle oder gemeinsame Pausen dienen nicht nur der Entspannung und der Bewegung sondern der intensiven Kommunikation unter den Kindern.

Soziales Lernen

Nach Montessori bedingen, ergänzen und fördern sich Individualität und soziales Leben.

Nur durch freie persönliche Entfaltung innerhalb einer Gruppe, können auch Einsicht und Verständnis für Regeln des Zusammenlebens aufgebaut werden.

Das gemeinsame Leben, Lernen und Arbeiten von in sich gestärkten Individuen, der  permanente Austausch und die Kommunikation, die gegenseitige Hilfe und Kooperation, die geforderte Mischung in Bezug auf Alter, Herkunft und Entwicklungsstand der Kinder, ermöglichen vielfältigste soziale Erfahrungen und Lernprozesse.

Vor allem durch die Altersdurchmischung, aber auch, in inklusiven Klassen, durch die Aufnahme von Kindern mit unterschiedlichen Benachteiligungen werden unterschiedliche Lern- und Arbeitstempi und unterschiedliche Leistungsfähigkeit als selbstverständlich erlebt.

Das jährliche Hinzukommen einer kleinen Gruppe jüngerer und das Weggehen älterer Kinder ermöglicht wichtige soziale Lernerfahrungen, die die Kinder bestens auf eine „offene Gesellschaft“ vorbereiten: Fremdes, Unbekanntes wird regelmäßig in die Gruppe aufgenommen, während Vertrautes und Liebgewonnenes ebenso regelmäßig verabschiedet werden muss.

Dadurch ergibt sich ein laufender Wechsel in der Dynamik der Gruppe. Rollenfixierungen sind nicht so leicht möglich, jedes Kind erlebt sich selbst einmal in der Rolle, in der es etwas an andere weitergibt, aber auch in der Rolle, in der es von anderen etwas an – oder übernimmt.

Es findet sich einmal in der Rolle des neuen, jungen Kindes und sieht gleichzeitig in den älteren Kindern seine eigene Zukunft. Dann als älteres Kind kann es mit großem Einfühlungsvermögen den neuen, jüngeren Kindern begegnen, weil es diese Rolle eben auch schon kennt.

Die besondere Rolle der LehrerInnen

Den LehrerInnen kommt die Aufgabe zu, das Kind in seinen sensiblen Phasen zu beobachten, ihm eine adäquate Lernumgebung bereitzustellen und zu helfen, wo das Kind sein Bedürfnis danach äußert. Es erfordert Vertrauen in die Selbstentwicklungsprozesse der Kinder und ein anderes Selbstverständnis als LehrerIn und ErzieherIn, sich selbst immer wieder zurückzunehmen und ein richtiges Maß an Bindung und Freiheit zu ermöglichen, damit sich das Kind wirklich frei entwickeln und zu einem selbstbewussten, eigenverantwortlichen Menschen heranreifen kann.

Wir arbeiten als Team von Volksschul-, SonderschullehrerInnen und FreizeitbetreuerInnen, wobei es in der Freiarbeit keinen Unterschied macht, wer uns um Hilfe bittet oder wen wir gerade betreuen, wir fühlen uns für  a l l e  Kinder zuständig.

Weitere wesentliche Eckpfeiler unserer pädagogischen Arbeit sind:

Demokratie und Mitbestimmung (Klassenrat und MSK-Parlament)

Umgang mit Medien

Projektarbeit

Präsentation vor anderen

Geschlechtssensible Erziehung und Pädagogik